Lerne im Gleichgewicht zu bleiben zwischen empathischem Kontakt und klaren Grenzen setzen. Wie wir als Kinder gelernt haben Grenzen zu setzen, hat Konsequenzen in unserem Erwachsenenleben. Was also sind erste Schritte zu einer gesunden Grenze und wie kannst du dich achtsam begleiten auf diesem Weg?
Die Bedeutung von Grenzen
Wir Menschen sind soziale Wesen und sind in ständigem Austausch und Kontakt miteinander. Sich abgrenzen zu können und im Kontakt zu bleiben sind wesentliche Bestandteile eines erfüllten Lebens. Grenzen helfen uns, unsere Identität zu wahren, das Selbstwertgefühl zu stärken und gesunde Beziehungen zu leben.
Aber was genau sind Grenzen und warum sind sie so wichtig?
Warum wir Schwierigkeiten haben, Grenzen zu setzen
Viele Menschen erkennen Grenzüberschreitungen zu spät, weil sie zu wenig darauf achten, für sich einzustehen. Einerseits kann das aus der Angst vor Ablehnung begründet sein. Es ist ein Grundbedürfnis des Menschen, anderen zu gefallen. Andererseits setzen Menschen Grenzen auch zu starr aus Unsicherheit über das Mass an Nähe. Grenzen respektvoll zu kommunizieren geben ein Profil, weil sie Klarheit schaffen. Es ist ein Ausdruck von Selbstfürsorge und Respekt.
Meistens reden wir beim Thema Grenzen setzen von Menschen, die sich schwertun, genügend Grenzen (unterbegrenzt) zu setzen. Auf der anderen Seite gibt es Menschen mit zu starren und zu rigiden Grenzen (überbegrenzt).
Unterbegrenzte Menschen fühlen sich öfters ausgenützt, weil sie viel für Andere tun und nicht gleich viel erhalten. Sie stellen sich zu sehr in den Dienst für andere und sich selbst in den Hintergrund. Überbegrenzte Menschen, kümmern sich erst um sich und um ihr eigenes Wohlbefinden, nehmen wenig Rücksicht, haben wenig Empathie für die Bedürfnisse des Gegenübers. Es ist eine schwierige Gratwanderung das richtige Mass zu finden.
Was wir als Kinder lernen hat Konsequenzen
Kinder, deren „Nein“ gehört wurde, lernen, dass es normal ist, eine Grenze zu ziehen und sich verweigern zu dürfen. Sie fühlen die Sicherheit des Geliebtwerdens. Sie werden ernst genommen in ihrem Nein. Kann sich das kindliche Nein nicht durchsetzen (gehört zum Leben und ist wichtig als Erfahrung), begleiten Erwachsene im Idealfall die auftauchenden Gefühle wie Frustration, Wut, Enttäuschung des Kindes und erkennen sie an. Das Kind braucht eine Coregulation für diese Gefühle, die Sicherheit des Begleitetwerdens und nicht Ausschluss oder Bestrafung. Das Kind lernt zweierlei: 1. Es darf sich abgrenzen und bleibt zugehörig. 2. Es lernt mit schwierigen Gefühlen umzugehen.
Dies bedingt gereifte Erwachsene, die dem Kind eine Grenze setzen und dem Kind Halt geben durch ihr Verständnis für die Enttäuschung und Frustration. Das Nein der Eltern gilt der Sache und nicht der Liebe zum Kind.
Wenn sich ein Kind hingegen nur zugehörig gefühlt hat, wenn es brav war, gehorcht hat, den Ansprüchen der Erwachsenen genügt hat, dann hat es nicht genügend lernen dürfen, sich zu widersetzen. Nein zu sagen und dazuzugehören hat sich quasi ausgeschlossen. Was machen diese Kinder also: sie passen sich an, streiten weniger, suchen die Harmonie, unterdrücken ihre Wut.
Zu wenig Grenzen – ein Frauenthema?
In der Kindheit von Frauen wurden Empathie, Anpassung und Harmonie mehr betont als Durchsetzungsvermögen (Haare auf den Zähnen), klare Aussagen und Forderungen (Anmassend) und Auseinandersetzungen (Hysterisch). Mädchen untereinander sozialisieren sich ausserdem weniger über offenen Wettbewerb als durch nicht zu sehr herauszuragen („Habt ihr gesehen, wie dich sich wieder meint?!“). Man muss den Ball sozusagen flach halten um im Verbund dazuzugehören.
Das heisst, Frauen haben besser gelernt die Antennen auszufahren, die Bedürfnisse der Umgebung schnell wahrzunehmen und diese dann (womöglich auch ungefragt) zu erfüllen. So verlernen Frauen, sich auf sich zu konzentrieren, ihre Bedürfnisse ernst und wichtig zu nehmen, sie als ihre innere Wahrheit nach aussen zu vertreten. Dieses dauernde Abtasten und Erspüren der Bedürfnisse, der Stimmungen der anderen macht es so viel schwieriger, Grenzen zu setzen, Nein zu sagen, sich für die eigenen Bedürfnisse stark zu machen.
So kennst du vielleicht deine persönlichen Grenzen zu wenig, bist in Gefahr Grenzen zu überschreiten, kannst zu wenig Prioritäten setzen und Grenzen klar kommunizieren. Du lässt viel zu viel vom Aussen in dich hinein und dort wirst du es schlecht los. Dort verwirrt es dein Fühlen und Denken, weil du gelernt hast, dass das Äussere wichtiger ist als dein Inneres.
Zu viel Grenzen
Menschen mit zu vielen Grenzen haben gelernt, alles, was grad nicht in ihr Glaubenssystem, in ihre Vorstellungen und in ihre Gefühlswelt hineinpasst, an sich abprallen zu lassen. Sie haben Mauern um sich gebaut und diese Burg verteidigen sie auch vehement. Es hat mit Abschotten, mit Verdichten zu tun und die eigene Sicherheit scheint dauernd gefährdet. Du erinnerst dich an das Verhalten der Staaten während der Pandemie – die Grenzen wurden dicht gemacht aus Angst vor der Gefährdung. Wenn dieses Verhärten ein Dauerzustand wird, dann werden die Menschen unempfänglich für die Bedürfnisse und Nöte und Stimmungen der anderen. Sie schauen nur noch auf ihren eigenen Vorteil. Das System ist rigide und überbegrenzt.
Gesunde Grenzen setzen lernen
Kennst du die eigenen Grenzen? Merkst du, wann du sie überschreitest, wann sie verletzt werden?
Das Werte- und Entwicklungsquadrat: Anteilnahme und klare Grenze setzen
Die Grafik zeigt dir das Werte- und Entwicklungsquadrat von Prof.F. Schulz von Thun, angewendet auf das Thema Grenzen setzen. Die beiden oberen Werte sind positive gegensätzliche Werte. Die beiden unteren Werte sind die jeweils negativen Übertreibungen der positiven Werte. Je stärker im oberen Feld nur einer der beiden Werte entwickelt ist, desto mehr gerät man in Gefahr, diesen einen Wert negativ zu übertreiben.
Es ist wichtig zu verstehen, dass hilfsbereite, empathische und anteilnehmende Menschen (Feld 1) diese überaus wertvollen Eigenschaften nicht aufgeben wollen (und auch nicht sollen). Wenn sie aber das Pendant des klaren Standpunktes, auch mal einer kritischen Konfrontation (Feld 2) meiden und nicht gelernt haben, dann geraten diese Menschen in Gefahr ihr Verhalten zu übertreiben und sich aufzuopfern (Feld 3). Wenn du dich also wiedererkennst in der Selbstaufgabe, in der Aufopferung, in der Verschmelzung mit dem Gegenüber, dann wird es deine Aufgabe sein dich in Richtung klaren Standpunktes und kritische Konfrontation zu entwickeln. Feld 4 ist für dich das absolute NO-GO. (Das ist die negative Übertreibung von klarem Standpunkt und Abgrenzung.) Da du Feld 3 gut kennst, ist für dich Abgrenzung schnell egoistisch, teilnahmslos, ohne Empathie, abgeschottet (Feld 4). So ist dann jede Abgrenzung deinerseits für dich schon sehr nahe am Egoismus und du fürchtest dich, deine Empathie und Hilfsbereitschaft ganz aufgeben zu müssen.
Es ist jedoch wichtig für dich zu verstehen: Je besser du lernst, dich auch mal abzugrenzen, nein zu sagen, desto weniger bist du in Gefahr, deine Empathie und Hilfsbereitschaft zu übertreiben. Die beiden oberen Werte balancieren sich mehr und mehr aus und entwickeln Synergien. Schulz von Thun sagt dann: Das ist die Regenbogenqualität, die über den beiden Werten strahlt.
Erste Schritte zu gesunden Grenzen
Um gesunde Grenzen zu setzen braucht es das Verständnis, dass das Spannungsfeld von menschlicher Nähe, geliebt werden zu wollen sowie das Beachten eigener Bedürfnisse und Autonomie ein ständiges Ausbalancieren ist. Das heisst – positiv ausgedrückt – das Leben wird dir reichlich Übungsmöglichkeiten bieten.
- Beobachte dich und reflektiere dich. Habe ich aus Gewohnheit geholfen, unterstützt, mitgelitten? Wollte ich? Hatte ich Zeit? War es eine bewusste Entscheidung? Habe ich dabei meine Grenze überschritten? Begleite dich liebevoll und grosszügig.
- Beginne dort, wo es dir am leichtesten fällt. Frage dich, ob das dir nahe Menschen sind oder im Gegenteil Menschen, bei denen du wenig „riskierst“.
- In welchen Situationen und mit welchen Menschen kannst du dich bereits abgrenzen? Was macht es dort erfolgreich? Kannst du das auf andere Situationen übertragen? Wenn du mit Kindern zu tun hast – sie sind ein prima Übungsfeld.
- Sich emotional von manipulativen und narzisstischen Menschen abzugrenzen ist extrem anspruchsvoll! Hier gilt es vor allem immer und immer wieder Abstand zu nehmen. Holt euch hier professionelle Unterstützung. Solche Menschen vernebeln die Wahrnehmung. Verwirrung, Verunsicherung, Selbstentwertung sind Folgen davon.
- Hochsensible Menschen nehmen fast ungefiltert die Emotionen der Umgebung mit auf. Da Grenzen auch immer körperlich gesetzt werden, rate ich hier zur Begleitung auch über den Körper. Erste Massnahmen sind Ruhefenster, wo nichts los ist. Damit das System wieder bei sich landen kann.
- Orientiere dich an deinen Bedürfnissen. Sie sind wichtig. Wenn du sie nicht kennst, dann kennst du vielleicht, was du auf keinen Fall willst. Überlege dir, was für ein Bedürfnis dahinter steckt.
- Nein sagen lernen. Nein sagen, ein Nein ausdrücken, ist die Voraussetzung, um sich den eigenen Platz zu geben und seine Bedürnisse ernst zu nehmen.
Das Nein sagen
- Beginne mit kleinen konkreten Dingen. Überlege dir vorher konkrete Formulierungen zum Grenzen setzen: Wenn heute Person X mich um etwas bittet, das ich nicht machen will, habe ich folgende Antwort (z.B. „Heute habe ich grad gar keine Lust auf Essen gehen. Mein Kühlschrank muss ausserdem geleert werden. Gerne nächste Woche am Dienstag?“ Du umgehst damit das spontane Antworten, das dir keine Zeit zum Überlegen lässt.
- Lass dir Zeit zum antworten. Viele Bitten, Vorschläge oder Anfragen kommen überfallartig. Gewöhne dir an, den Überfall abzulehnen. Das kann so tönen: „Ich brauche einen Moment zum Überlegen, ich weiss es grad nicht. Ich gebe dir Bescheid.“
- Überlege dir Kompromisse, wenn du dir Zeit verschafft hast und nicht ablehnen kannst. Stimme einem Teil zu und lehne einen anderen Teil ab.
- Setze Prioritäten am Anfang des Tages: Was ist heute wichtig für dich. Welche Bedürfnisse erfüllst du dir heute. Was ist unumgänglich?
- Teile Bedürfnisse und Prioritäten den betroffenen Menschen frühzeitig mit. Es ist dann leichter für dich das abzulehnen, was du nicht willst.
Fazit
Persönliche Grenzen setzen lernen ist ein Langzeitunternehmen. In alledem braucht es dich und deine liebevolle Aufmerksamkeit, um dich zu begleiten. Auch wenn nicht alles gelingt, wirst du mit der Zeit merken, dass du deine eigenen Grenzen besser kennst und Grenzen besser setzen kannst. Ich bin nun schon 68 und ich übe mich schon lange darin. Lernen ist wiederholen. Und das Leben gibt uns dazu Gelegenheit, garantiert. Lies dazu auch die Basis der zwischenmenschlichen Kommunikation.
Wenn du dich gerne begleiten möchtest, kontaktiere mich gerne.