Ein persönlicher Erklärungsversuch

Seit ein paar Wochen bin ich mit dem Thema beschäftigt und konfrontiert, dass junge Frauen nicht in die Kraft finden, dass junge Mütter nach kurzer Zeit total ausgelaugt sind und ihr System eigentlich fortwährend im Überblebensmodus funktionieren muss.

Das ist mehr als ein persönliches Phänomen, es hat System.

Ich sehe dieses Leiden und es tut mir weh, wie junge Frauen und natürlich auch junge Menschen generell in der biologischen Phase der grössten Energie und Kraft, sich mutlos, verzweifelt, erschöpft und auch verängstigt durch ihre Leben schleppen.

Ich habe heute einen Podcast von Veit Lindau gehört über ein neu erschienenes Buch mit dem Titel: «Das verstaatlichte Kind: optimiert, reguliert, traumatisiert» (Gunda Frey). Dieser Titel macht mich grad so tief betroffen, weil ich seit den 90er Jahren beobachte, wie unser ganzes Leben mehr und mehr «vermanaged» wird. Überall müssen wir hineinpassen, alles ist handlebar, alles muss effizient sein und überall ist das äussere Bild so wichtig. Ein paar kleine Beispiele: Schulen werden heute wie Betriebe geführt und höhere Schulen müssen rentabel sein. Viele durchdachte Konzepte können aus Ressourcenknappheit nur mangelhaft und unter viel Anstrengung der Pädagog:innen umgesetzt werden. Altenheime werden als Betriebe geführt, die rentabel sein müssen. Pro alter Mensch darf ein:e Pfleger:in etwa 10 Minuten Zeit aufwenden, um ihn zu waschen. Egal ob verwirrt, inkontinent oder verängstigt. Kranke müssen in Spitälern rentabel sein. Das beinhaltet eigentlich aufwändige Untersuchungen und Operationen, möglichst wenig Pflege. In diesem gesellschaftlichen Erleben wird manchmal auch das Gebären als handhabbares und kontrolliertes Ereignis bis hin zum Event wahrgenommen und nicht als die zutiefst biologische Erfahrung des sich Hingebens und Loslassens verbunden mit einem möglicherweise tiefen Kontrollverlust.

Was macht das mit den Menschen, mit Frauen, die in einer so straff durchorgansierten Struktur arbeiten und leben müssen? Die vielleicht Sicherheit und Kontrolle gleichsetzen?

Wer in einem solchen System grossgeworden ist, wo alles zu funktionieren hat, wo alles berechenbar und effizient sein muss, wo alles perfektioniert wird, Betriebe unrentable Zweige abstossen müssen, ist auch zutiefst geprägt von diesem Effizienzwahn. Von der Idee, alles unter einen Hut zu bringen und Beziehungen, Familien, Partnerschaften, das Muttersein, Geburten, das Frausein auch noch effizient und perfekt daherkommen müssen, möglichst mit Colgate-Lächeln, propperen Kindern und vorzeigbarem Haushalt. Haben wir doch alles unter Kontrolle?

Wenn das die Normalität ist und ich der nicht genüge: bin ich dann schon abnormal? Wieviele kleine Kinder müssen schon ins System passen vom Gewecktwerden, in den Hort stressen und schnell schnell abgegeben werden? Wieviele Kinder haben schon ganz klein Etiketten mit Diagnosen wie verhaltensauffällig, Aufmerksamkeits Defizit Störung (ADS), Autismus Spektrum Störung (ASS), psychomotorischen Dysfunktionen, lernschwach usw. Weil sie nicht ins System passen? Weil sie schon Schaden genommen haben in unserer Welt, diese kleinen Wunder an Präsenz, Neugierde, Kreativität, Plastizität?

So ist es uns kaum bewusst, wie sehr diese spätkapitalistische Welt uns in ein «Gut = funktioniert = leistet = brauchbar» und in ein «Schlecht = funktioniert mangelhaft oder nicht = keine oder ungenügende Leistung = unbrauchbar» einteilt mit einer sehr klaren und präzisen Bewertung. Normal ist das Funktionieren. Wenn sich Menschen und Frauen damit nicht zurechtfinden, dann erleben die Frauen dies als persönliches Versagen und Scheitern an dieser Welt, in der es scheinbar so wenig Platz gibt für sie. Dann werden womöglich die Lebensbereiche wie Beruf oder das Muttersein zur Überanstrengung, zum Dauerstress. Und das eigene Sein wird als nicht zugehörig, orientierungslos, überfordert und abnormal wahrgenommen. Traumasensibel betrachtet bedeutet das, dass das System einerseits heiss läuft in der Anstrengung, diesem Perfektionismus und Funktionieren müssen irgendwie gerecht zu werden – und andererseits unser Nervensystem im Shut-Down ist, weil es überreizt und bedroht ist. In diesem Zustand noch zu funktionieren ist per se eine Überanstrengung. Ein System, das Gas gibt und gleichzeitig ausgebremst ist. Angetrieben von der Sehnsucht, wie alle anderen zu sein. Normal zu sein.

Ich behaupte zudem, dass Frauen zusätzlich besonders davon betroffen sind. Wir wenden immer noch unglaublich viel mehr Zeit als Männer auf für die ganze unbezahlte Care-Arbeit. Wir sind diejenigen, die wählen müssen zwischen Beruf und Kindern und wenn sie dann da sind, übernehmen wir – oft zu selbstverständlich – neben deutlich mehr Betreuungsarbeit auch den ganzen Organisationskram wie an Geburtstagsgeschenke denken, Hin- und Herfahren, für den Schwimmunterricht anmelden, Zahnarzttermine managen, sich über die Impfungen informieren, Partner darüber zu informieren, was sie wann erledigen sollen usw. Als Mütter arbeiten wir selbstverständlich Teilzeit, weil wir arbeiten, unser eigenes Geld verdienen wollen, und meist auch noch Zeit haben wollen für unsere Kinder. Als Preis sind Frauen nach Trennungen zusätzlich oft finanziell am Rande und müssen zurechtkommen in einem System, das ihnen sehr wenig Unterstützung gibt. Männer mussten sich oft schon als Jungen nicht in diese Careprozesse einbringen und es ist wenig verwunderlich, wenn ihnen das auch kaum bewusst ist und wenn, es oft nicht ganz ernstnehmen als wirkliche Arbeit. Sie kennen es einfach nicht anders – wir Frauen schon. Das heisst nicht, dass Männer in diesem kräftezehrenden System nicht auch leiden. Mein Fokus ist einfach nicht bei ihnen.

Die Teilzeitarbeit fordert zusätzlich, weil Frauen in Familien wiederum viel stärker als Männer sich in zwei sehr unterschiedlichen Welten bewegen. Sie leiten einerseits das Kleinunternehmen Familie mit all seinen Ansprüchen, Putz-, Kauf,- Wasch-, Aufräum- und Organisationsaufwand, Betreuung und Fürsorge und sind in ihrem Beruf gefordert als Fachkräfte mit dem Anspruch, auch in Teilzeit über alles informiert zu sein, in kurzer Zeit viel zu erledigen, sich weiterzubilden. Männer in Familien übernehmen sehr oft 1 oder 1 ½ Tage der Betreuung und Hausarbeit. Sie sind aber eher Angestellte in diesem Familienunternehmen, wo ihnen die Frau die Arbeit zuteilt. In die berufliche Welt stecken sie meist mehr Energie und Zeit, erhalten mehr soziale Anerkennung dafür und oft einen deutlich besseren Lohn. Diese doppelte und dreifache Belastung zehrt entsprechend mehr an uns Frauen.

Und noch ein letzter Punkt: Traditionell sind wir Frauen schon länger im Aufbruch, im Protest mit einer männlich geprägten Lebenswelt, kämpfen schon lange um die gleichen Rechte. Mit der zugewiesenen und/oder auch biologisch näheren Rolle der Fürsorge, verbindet uns auch zu uns selbst oft eine grössere Sensibilität. Während etwa 80 % der Persönlichkeitsentwicklungsangebote Männer anbieten in der «Szene», sind 80 % der Teilnehmer:innen Frauen. Frauen haben prozentual ein höheres Interesse an Eigenentwicklung, am inneren Wachstum. Dies macht uns einerseits anfälliger und sensibler, andererseits gesünder, weil wir doch schneller reagieren auf das Krankmachende und weniger wegstecken. Das heisst, die Schwachen in unserem System: Kinder, Frauen, alte Menschen kranken am schnellsten an diesem System. Kinder werden dysfunktionaler, Frauen erschöpfen sich mehr, alte Menschen leben und sterben einsamer und werden medikamentös ruhig gestellt.

Gibt es Lösungsansätze?

Eine Vision sehe ich in einem nicht von mir erdachten Modell vor mir, das für die ca 16 Std Wachzeit folgendes vorsieht: 4 Std Berufsarbeit, 4 Std Carearbeit, 4 Std Selbstpflege, 4 Std politisches Engagement und Gemeinwohl. Ich finde es wichtig, sich im Ansatz eine mögliche Zukunft auch real vorzustellen. Selbst wenn sie weit weg scheint und ich nicht weiss, wie das real umzusetzen wäre. Aber in einem solchen Modell sehe ich den Menschen wieder im Zentrum mit seiner Lebenskraft und Lebensfreude.

Auf der systemischen Ebene kämpfen wir seit etwa 200 Jahren um die gleichen Rechte und seit ein paar tausend Jahren um unsere seelische und körperliche Unversehrtheit als Geschlecht. Das ist ja nicht abgeschlossen und ich sehe mit Freude, wie es fantasievolle Engagements (Mini Mueter bruucht es Kafi) gibt bis zu grossen Internetbewegungen #metoo.

Der Ansatz, den wir am schnellsten umsetzen können, ist der persönliche. Ich glaube, viele Frauen dürfen wieder lernen, sich mehr zurückzulehnen, sich selbst den wichtigsten Platz zu geben und Zeit für sich einzuräumen. Das ist möglicherweise ein Schritt, den wir vor lauter selber können, selbständig sein zu wollen, uns zu lösen aus der Abhängigkeit von den Männern, mit über Bord geworfen haben. Und im Kontext des zunehmenden Perfektionieren auch im persönlichen Bereich – angefangen beim Perfektionieren unseres Körpers bis zum Optimieren unseres Charakters – erscheint mir diese Tendenz noch fataler. Wenn das System schon so menschenfeindlich ist, brauchen wir hier ein innerlich grosses Stopp-Schild, um mal einfach so variantenreich und unperfekt sein zu dürfen, wie es die Natur für uns vorgesehen hat. (Vielleicht hilft das Bild der normierten Früchte und Gemüse, das die EU vorschreibt. Was für eine – wie es meine spanische Frau ausdrückt – megaoberdoppelsuper Sch…. So ist die Frucht und das Gemüse nicht und so sind wir nicht).

Also darf jede Frau sich fragen: darf ich auch unperfekt wunderbar und facettenreich sein? Mich ausbreiten in mir, so wie ich bin? Kann ich einen Schritt zurück buchstabieren und lernen, Anstrengung in mir zu reduzieren, indem ich mich in mir zurücklehne – und wenn es 5 Minuten am Tag sind und ich mich liebevoll umarme. Ein Kissen umarme, meine Arme um mich schlinge und wahrnehme, was das in mir auslöst? Am Sofa wirklich anzulehnen und den Rücken die Stütze wahrnehmen zu lassen. Wie weit können meine Zellen annehmen? Kleine körperliche Wahrnehmungsübungen zu machen und dann den Tag zu starten. Oder unsere Partner:innen um Hilfe bitten, uns getrauen eine Umarmung auch in einem schwachen Moment und als schwache Frau zu erbitten. Mit der Zeit wird es dir dann vielleicht auch bewusster, was denn dein Körper macht, wenn er sich anstrengt – wo und wie muss er sich versteifen, verdichten? Was macht dann der Atem? Was passiert dann im Kopf? Wie kann ich hier innehalten, stoppen, mich langsam wieder weiten?

Und du weisst: Du darfst auch jederzeit Hilfe annehmen und dich von mir begleiten lassen auf dieser körperlichen Ebene, damit dein System aus dem Überlebensmodus wieder aussteigen lernt. Schritt für Schritt. Denn du bist weit mehr als dieses optimierte, perfektionierte angestrengte Wesen. Wirklich weit mehr!