Erschöpfung als Systemfehler

Seit ein paar Wochen bin ich mit dem Thema beschäftigt und konfrontiert, dass junge Frauen nicht in die Kraft finden, dass junge Mütter nach kurzer Zeit total ausgelaugt sind und ihr System eigentlich fortwährend im Überblebensmodus funktionieren muss.

Das ist mehr als ein persönliches Phänomen, es hat System.

Ich sehe dieses Leiden und es tut mir weh, wie junge Frauen und natürlich auch junge Menschen generell in der biologischen Phase der grössten Energie und Kraft, sich mutlos, verzweifelt, erschöpft und auch verängstigt durch ihre Leben schleppen.

Das Leben als Management?

Seit den 90er Jahren beobachte ich, wie das Leben mehr und mehr «gemanaged» werden muss. Überall müssen wir hineinpassen, alles ist „handlebar“, alles muss effizient sein und überall ist das äussere Bild wichtig.

Ein paar Beispiele:

  • Schulen werden heute wie Betriebe geführt und höhere Schulen müssen rentabel sein. Viele durchdachte Konzepte können aus Ressourcenknappheit nur mangelhaft und unter viel Anstrengung der Pädagog:innen umgesetzt werden.
  • Altenheime werden als Betriebe geführt, die rentabel sein müssen. Pro alter Mensch darf ein:e Pfleger:in etwa 10 Minuten Zeit aufwenden, um ihn zu waschen. Egal ob verwirrt, inkontinent oder verängstigt.
  • Kranke müssen in Spitälern rentabel sein. Das beinhaltet aufwändige (und teure) Untersuchungen und Operationen, möglichst wenig Pflege.
  • Gebären wird als handhabbares und kontrolliertes Ereignis bis hin zum Event wahrgenommen und nicht als die zutiefst biologische Erfahrung des sich Hingebens und Loslassens, verbunden mit einem möglicherweise tiefen Kontrollverlust.

Was macht das mit den Frauen, die in so straff durchorgansierten und evaluationssüchtigen Strukturen arbeiten und leben müssen? Wer in einem solchen System grossgeworden ist, wo alles zu funktionieren hat, wo alles berechenbar und effizient sein muss, wo alles perfektioniert wird, Betriebe unrentable Zweige abstossen müssen, ist auch zutiefst geprägt von diesem Effizienzwahn. Von der Idee, alles unter einen Hut zu bringen und Beziehungen, Familien, Partnerschaften, das Muttersein, Geburten, das Frausein auch noch effizient und perfekt daherkommen müssen, möglichst mit Colgate-Lächeln, propperen Kindern und vorzeigbarem Haushalt.

Wenn das Nervensystem Gas gibt und gleichzeitig bremst

So ist es uns kaum bewusst, wie sehr diese spätkapitalistische Welt uns in ein

  • «Gut = funktioniert = leistet = brauchbar» 
  • «Schlecht = funktioniert mangelhaft oder nicht = keine oder ungenügende Leistung = unbrauchbar»

einteilt mit einer sehr klaren und präzisen Bewertung. Normal ist das Funktionieren. Wenn sich Frauen damit nicht zurechtfinden, dann erleben sie dies als persönliches Versagen und Scheitern an dieser Welt. Dann wird das Leben zur Überanstrengung, zum Dauerstress. Und das eigene Sein wird als nicht zugehörig, orientierungslos, überfordert und abnormal wahrgenommen.

Traumasensibel betrachtet bedeutet das, dass das System einerseits heiss läuft in der Anstrengung, diesem Perfektionismus und Funktionieren-Müssen irgendwie gerecht zu werden – und andererseits unser Nervensystem im Shut-Down ist, weil es überreizt und bedroht ist. In diesem Zustand noch zu funktionieren ist per se eine Überanstrengung. Ein System, das Gas gibt und gleichzeitig ausgebremst ist. Angetrieben von der Sehnsucht, wie alle anderen zu sein. Normal zu sein.

Benachteiligte Frauen: Care-Arbeit, tiefe Renten, kleine Löhne

Frauen sind davon besonders betroffen. Sie wenden viel mehr Zeit auf als Männer für die ganze unbezahlte Care-Arbeit. Sie sind diejenigen, die wählen müssen zwischen Beruf und Kindern. Wenn sie dann da sind, übernehmen sie – oft zu selbstverständlich – neben deutlich mehr Betreuungsarbeit auch den ganzen Organisationskram (Geburtstagsgeschenke, Hin- und Herfahren, Schwimmunterricht anmelden, Zahnarzttermine managen, sich über die Impfungen informieren, Partner anzuleiten, was sie wann erledigen sollen usw.) Als Mütter arbeiten sie oft selbstverständlich Teilzeit, weil sie arbeiten und ihr eigenes Geld verdienen wollen, weil sie Zeit haben wollen für die Kinder. Als Preis sind Frauen nach Trennungen zusätzlich oft finanziell am Rande und müssen zurechtkommen in einem System, das ihnen sehr wenig Unterstützung gibt: Fehlende Krippenplätze, ungenügende Elternzeit, schlechter bezahlte Arbeit und nach einer Trennung oft im Dauerstress zwischen Arbeit und Kinderbetreuung.

Männer mussten sich oft schon als Jungen nicht in diese Careprozesse einbringen. Es ist wenig verwunderlich, wenn ihnen das auch kaum bewusst ist und es oft nicht ganz ernstnehmen als wirkliche Arbeit. Sie kennen es einfach nicht anders – die Frauen schon. Das heisst nicht, dass Männer in diesem kräftezehrenden System nicht auch leiden.

Lohnarbeit als zusätzlicher Unruhefaktor

 Familienfrauen bewegen sich wiederum viel stärker als Männer in zwei sehr unterschiedlichen Welten. Sie leiten einerseits das Kleinunternehmen Familie mit all seinen Ansprüchen, Putz-, Kauf,- Wasch-, Aufräum- und Organisationsaufwand, Betreuung und Fürsorge. Sie sind in ihrem Beruf gefordert als Fachkräfte mit dem Anspruch, auch in Teilzeit über alles informiert zu sein, in kurzer Zeit viel zu erledigen, sich weiterzubilden. Männer in Familien übernehmen sehr oft 1 oder 1 ½ Tage der Betreuung und Hausarbeit. Sie sind aber eher Angestellte in diesem Familienunternehmen, wo ihnen die Frau die Arbeit zuteilt. In die berufliche Welt stecken sie meist mehr Energie und Zeit, erhalten mehr soziale Anerkennung dafür und oft einen deutlich besseren Lohn. Diese doppelte und dreifache Belastung zehrt entsprechend mehr an den Frauen.

Mehr Sensiblität für das Krankmachende

Traditionell sind die Frauen schon länger im Aufbruch, im Protest mit einer männlich geprägten Lebenswelt, kämpfen schon lange um die gleichen Rechte, kümmern sich mehr um die eigene Befindlichkeit. Während etwa 80 % der Persönlichkeitsentwicklungsangebote Männer anbieten in der «Szene», sind 80 % der Teilnehmer:innen Frauen. Frauen haben prozentual ein höheres Interesse an Eigenentwicklung, am inneren Wachstum. Dies macht sie anfälliger und sensibler, weil der innere Seismograph viel feiner kalibriert ist und sie schneller auf ungesundes Verhalten reagieren. Und es macht sie auch gesünder, weil sie in einem Lernprozess der Selbstfürsorge sind.

Trotzdem: die Schwachen in unserem System, Kinder, Frauen, alte Menschen kranken auch am schnellsten an diesem System. Kinder werden dysfunktionaler, Frauen erschöpfen sich mehr, alte Menschen leben und sterben einsamer und werden medikamentös ruhig gestellt.

Lösungsansätze

  • Auf der visionären Ebene wünschte ich mir ein Modell wie dieses: In den ca 16 Stunden Wachzeit werden 4 Stunden für die  Berufsarbeit, 4 Stunden für die Carearbeit, 4 Stunden für die Selbstfürsorge und Weiterbildung, 4 Stunden für politisches Engagement und Gemeinwohl eingesetzt. In einem solchen Modell sehe ich den Menschen wieder im Zentrum mit seiner Lebenskraft und Lebensfreude.
  • Auf der gesellschaftlichen Ebene sind Frauen wieder mehr dem Feminismus verpflichtet, kämpfen immer noch um die gleichen Rechte, für bezahlte Care-Arbeit, bessere Löhne, anderes Rentensystem etc.  Und zusätzlich um die seelische und körperliche Unversehrtheit aller Geschlechter. Damit kämpft der Feminismus heute breiter und grundsätzlich für eine menschengerechtere Welt. 
  • Auf der persönlichen Ebene möchte ich den Frauen Mut zum Unperfekten machen. Lücken lassen. Viel mehr zu delegieren. Abgeben und loslassen. Wieder einmal beim Partner anzulehnen und sich zu fragen: Wenn er das Geld so leicht verdient, darf ich dann auch einfach die Babyzeit daheim bleiben und mich von Schwangerschaft und Geburt erholen? Sich hinzusetzen und aufsschreiben: Welches sind meine grössten Energiefresser? Wie bringe ich mehr Ruhe in ein unruhiges System? Negative Gedankenspiralen zu stoppen – tausendmal.

Sich in den Arm nehmen

  • Darf ich als Frau auch unperfekt wunderbar und facettenreich sein?
  • Darf ich mich in mir ausbreiten, so wie ich bin?
  • Kann ich einen Schritt zurück buchstabieren und lernen, Anstrengung in mir zu reduzieren, indem ich mich in mir zurücklehne – und wenn es 5 Minuten am Tag sind und ich mich liebevoll umarme. Ein Kissen umarme, meine Arme um mich schlinge und wahrnehme, was das in mir auslöst? Am Sofa wirklich anzulehnen und den Rücken die Stütze wahrnehmen zu lassen. Wie weit können meine Zellen annehmen?
  • Kann ich achtsam meinen Körper wahrnehmen und dann in den Tag starten?
  • Kann ich meinen Partner:in um Hilfe bitten, mich getrauen eine Umarmung in einem schwachen Moment und als schwache Frau zu erbitten?
  • Wie strenge ich mich an? Was macht der Körper? Was macht der Atem? Was passiert im Kopf? Wie kann ich hier innehalten, stoppen, mich langsam wieder weiten?

Hilfe annehmen, heisst auch sich begleiten zu lassen auf diesem Weg.