Was fühlst du, wenn du an deine Kindheit denkst? Woran erinnerst du dich? War es die Zeit der Freiheit und Unbeschwertheit? Hast du kaum Bilder? Oder lieber keinen Gedanken mehr daran verschwenden, war eh nicht toll?

Wie auch immer sie war, sie hat uns geprägt und auf eine tiefgreifende Art beeinflusst. Darüber wird heute viel geforscht, und nachweislich beeinflussen schon Ereignisse der pränatalen Zeit im Bauch der Mutter, ja sogar möglicherweise die Umstände der Zeugung unser späteres Leben. Alle haben wir Verletzungen aus der Kindheit, alle wurden wir nicht zu jeder Zeit so begleitet, dass wir uns ganz und gar aufgehoben gefühlt haben. Und alle haben wir Fürsorge und Zuneigung erhalten – sonst hätten wir nicht überlebt.

So tragen wir alle ein verletztes inneres Kind oder Schattenkind in uns, das sich alleingelassen, ungeliebt, unverstanden, ausgeschlossen, wertlos fühlt. So ein Schattenanteil kann sich im Laufe unseres Erwachsenenlebens hinderlich auf unsere Entfaltung und unser Werden auswirken.

Dies äussert sich unter Umständen  mit unerklärlichen  Angstzuständen,  depressiven Verstimmungen, mit Energielosigkeit. Oder umgekehrt mit Gefühlen von getrieben sein, innerlich angespannt sein, Aggression.

Wenn sich in einer heutigen Situation  das verletzte innere Kind meldet, dann reagieren wir oft unbewusst, wie das kleine Kind damals in den ursprünglich erlebten Situationen reagiert hat. Neurobiologisch gesehen geht das blitzschnell, da unser Gehirn diese Reaktionsweise mannigfach abgespeichert hat. Mit der Zeit benutzt das Nervensystem dieses Muster sozusagen als neuronale Autobahn und zieht andere Möglichkeiten gar nicht mehr in Betracht. Mehr als uns vielleicht bewusst und lieb ist, ist dann eine heutige Reaktion mit Mustern und inneren Anteilen aus der Kindheit verknüpft. Innerlich bekannt, erleben wir unsere Reaktionen mit dem Gefühl: „So bin ich halt.“

Was wir also erlebt und oft gehört haben, verinnerlichen wir als Kinder und „wählen“ eine Reaktion aus, die es uns als Säuglinge, Kleinkinder, Kinder ermöglicht, dazu zu gehören, anerkannt zu werden, geliebt zu werden. Wir verankern dabei Glaubenssätze, die uns zum Beispiel sagen: „Ich kann das sowieso nicht.“ – „Was ich will, ist nicht wichtig.“ – „Ich bin wertlos.“ – „Ich bin nicht liebenswert, so wie ich bin.“ – „Ich muss leisten, brav sein, mich anstrengen, damit ich dazugehöre.“ – und als Frau zusätzlich: „Ich bin nur ein Mädchen.“ – „Ich muss für die anderen da sein.“ – „Ich darf nicht besser sein als die anderen.“ – „Sei lieb.“

Wenn du das liest, wird es verständlich, dass solche Glaubenssätze hinderlich sind im Erwachsenenleben. Diese inneren Überzeugungen sind oft tief eingefleischt. In unseren Zellen haben sich Reaktionsweisen wie sich zurücknehmen, aufgeben, anpassen, verstummen, eigene Bedürfnisse hintenanstellen, aufbrausen, Gefühllosigkeit usw. so verwoben, dass sie uns zur zweiten Natur geworden sind.

Was wir als Erwachsene im Aussen als Hindernis wahrnehmen, als Ungerechtigkeit, als ein immer wieder Anstehen, als Empörung, Machtlosigkeit, liegt in Wahrheit in uns und in unseren Schattenanteilen.

Zum besseren Verständnis: Ja, ein Herr Putin überfällt die Ukraine und bringt Leid über unendlich viele Menschen. Das ist ein äusseres Ereignis. Unsere Reaktion auf diesen Krieg ist aber geprägt von unserem Innern. Herrscht da Panik und Angst? Sind wir zutiefst verunsichert und trauen uns nicht mehr am Leben Freude zu empfinden? Stürzen wir uns grad in Aktionismus und helfen bis zur Erschöpfung? Wollen wir gar nichts mehr darüber hören? Das sind Reaktionen aus unserem Inneren.

So braucht es einen Bewusstseinsprozess und eine Auseinandersetzung mit diesen inneren Anteilen. Es gibt inzwischen genügend Literatur dazu (z.B. ‚Das Kind in dir muss Heilung finden‘ von Stefanie Stahl).

Wenn solche inneren Anteile in uns wirksam werden, dann ist es wichtig mal zu lesen: Das bist nicht du! Es sind Anteile in dir, die sich verselbständigt haben und in gewissen Lebensmomenten das Szepter in dir übernehmen und dein Fühlen, Denken und Handeln eine zeitlang bestimmen. Immer dann, wenn du erlebst: es tut in mir automatisch und du kannst es scheinbar nicht steuern, dann ist mit Sicherheit ein solcher innerer Anteil in dir wirksam.

Und die einzige und wichtigste Aufgabe ist es, dies wahrzunehmen und liebevoll zu beobachten. Das scheint wenig zu sein und ist viel Arbeit. Wenn wir nämlich solche Muster erkennen, dann wollen wir sie als erstes loswerden. Und die Krux dabei ist, dass genau das nicht geht. So wie wir als Kind möglicherweise schmerzvoll allein gelassen wurden, würden wir nun uns wieder allein lassen mit diesem Schmerz. Und uns selbst so behandeln, wie wir nicht behandelt werden wollten und wollen.

Also was dann?

Wahrnehmen, dass ein Muster läuft. Du kannst es dir nicht wegbefehlen. Wenn es vorbei ist, kannst du dich vielleicht meditativ hinsetzen und dich fragen – was steckt eigentlich hinter dem Muster? Welcher Glaubenssatz zeigt sich da? Was hätte ich als kleines Kind gebraucht?

Oft ist darin auch viel Schmerz, Trauer und Wut gebunden und es ist wichtig, dies anzuerkennen, durchzuleben und dir auch im Nervensystem und im Körper neue Wege zu kreieren. Das braucht Zeit und deine Zuwendung. Es sind tiefe Prozesse und es ist fast immer hilfreich, wenn du dich durch solche Prozesse begleiten lässt. Damit die darin verbundene Energie und Kraft freier wird und du dir andere Handlungsmöglichkeiten erarbeitest.

Du bist nämlich weit mehr … als deine Glaubenssätze.